„Die Natur will wahrgenommen werden“
Betrachtungen zur Schaftlosen Primel im Rahmen von Studientagen an der freien Hochschule für Spiritualität, durchgeführt im ökologisch-spirituellen Projekt Naone vom 10. bis 13. März 2025

In den noch spätwinterlich-trockenen Wiesen, an Wald- und Heckenrainen, entlang von Hohlwegen und Trockenmauern oder am Wegesrand durch lichte Gehölze leuchten aus der braun-goldenen Grundfärbung des vorjährigen Grases oder Laubes die zart-gelben Blütenstände der Primel dem Wanderer entgegen; sie begleiten den Besucher während seines etwa halbstündigen Aufstiegs aus der Ortschaft Lundo zum ökologisch-spirituellen Projekt Naone.
Als Charakterpflanze des zeitigen Frühlings, der auf einer Meereshöhe von 800-1000m seit Anfang März eingezogen ist, wollen wir uns bei unserer Naturbetrachtung der Schaftlosen Primel annähern und dabei einen von Heinz Grill formulierten Ansatz erforschen.
„So, wie die Pflanze das Licht der Sonne benötigt, so will sie ebenfalls das Licht der Aufmerksamkeit vom Menschen gewinnen und mit diesem Licht in eine stille, empfindsame Begegnung treten“ (Heinz Grill)
Dieses Zitat, ebenso wie das als Überschrift gewählte, zeigt eine interessante Konstellation von Mensch und Pflanze auf: Die Pflanze erscheint als Gegenüber, sogar als „bedürftiges“ Gegenüber, das auf stille und vornehme Weise die Beziehung zum Menschen sucht. Genauer gesagt zum Licht, das der Mensch durch seine Aufmerksamkeit demnach zu erschaffen imstande ist, und dies ist ein durchaus ungewöhnlicher Gedanke.
Die Wahrnehmung der Pflanze
Jeder weiteren Anschauung und Vorstellungsbildung liegt eine möglichst genaue, exakte und objektive Wahrnehmung zugrunde. Das Betrachten und Beschreiben der Erscheinung, des Phänomens der Pflanze bilden die Basis für alle weitergehenden Forschungen.
Welche Farben und Farbspiele zeigt die Blüte? Welche Form ist ihr zueigen? Wie ist die Anordnung der Hüllblätter, der Übergang in den Stängel? Sind die feinen Härchen an Stängel und Hüllblatt zu erkennen? Wie gruppieren sich die Einzelblüten zueinander? Wie treiben die Knospen aus der Erde? Welche Erscheinung zeigen die Blätter und in welchem Verhältnis stehen sie zur Blüte?
Nach einer Zeit der Betrachtung schließt man die Augen und erschafft die soeben betrachtete Blüte in der Vorstellung nochmals nach.

Ihre Ordnung in Jahreszeit und Habitat

Erhebt man den Blick über die einzelne Pflanze, stellt sich sogleich die Frage nach ihrem unmittelbaren Lebensraum und nach der Einordnung in jahreszeitliche Rhythmen. Selten findet man die Primula acaulis allein oder vereinzelt stehen, meist tritt sie in Gesellschaft mit anderen auf, so dass über den spätwinterlichen Wiesen wie ein zarter Hauch einer ersten frühlingshaften Farbe lebt. Oft bildet sie mit dem violett blühenden Leberblümchen einen feinen Farbkontrast und zusammen erscheinen sie als apart gewebter Blütenflor auf dem Obstanger oder im leicht beschatteten Rain einer jetzt ebenfalls blühenden Haselnusshecke. Erhebt man den Blick über die einzelne Pflanze, stellt sich sogleich die Frage nach ihrem unmittelbaren Lebensraum und nach der Einordnung in jahreszeitliche Rhythmen.
Der zeitige Frühling ist also die Jahreszeit der Primel, der „Ersten“. Wilhelm Pelikan findet poetische Worte zum Zeitpunkt des Erscheinens und Blühens der Primeln: „Im Lebensprozess die Elemente zu mischen, die im bewegten Atem der Frühlingsluft […] wirken, die im aus dem Eisensbanne befreiten Wasser, in der von Auferstehungskräften durchdrungenen Erde, das ist die […] Signatur der Himmelsschlüssel.“
Das Verbreitungsgebiet der Schaftlosen Primeln reicht in einem weiten Bogen von Norwegen über die Beneluxstaaten, Frankreich, Italien bis nach Syrien und in den Iran. Nach einer Beobachtung von Wilhelm Pelikan ordnen sich die Primeln genau in die Übergangsbereiche des Erstarrten zum Lebendigen ein, also im hohen Norden, im Gebirge oder eben wie im Betrachtungsbeispiel im wintermilden Trentino im zeitigen Frühling.
Bei unserer Pflanzenbetrachtung kam es uns darauf an, mit den Kriterien von Ort und Zeit lebendige Vorstellungen zu schaffen: die vom Wasser durchdrungene Erde, die mit der höher steigenden Sonne und dem nun schon länger werdenden Tageslauf erwärmende Luft oder die im Frühling im Vergleich zu den Wintertagen andere oder intensivere Lichtqualität. Mit Hilfe dieser gedanklich angeregten Vorstellungsbilder wollten wir die Empfindung schaffen, dass wir uns mit der Natur mit einem bewegten, lebendigen, immer wechselnden und sich neu gestaltenden Gegenüber beschäftigen.
Die Wahrnehmung erweitern
„Das reichere Wahrnehmen gewährt dem kommenden Licht der Pflanze einen Raum, so dass sie sich schließlich leichter entfalten kann“ (Heinz Grill)

Wie kann die Wahrnehmung erweitert werden?
Im einfachsten – und doch beeindruckenden – Sinn kann man sich auf ungewöhnliche Weise der Pflanze annähern. Annähern im wahrsten Sinn des Wortes, sich hinunterbeugen, sich begeben in Gesichtshöhe mit der Blüte, was im Fall der doch recht kleinen Primel bedeutet, ganz in die Hocke zu gehen oder sich sogar direkt in die Wiese zu legen. Neben dem Perspektivwechsel kann eine Lupe ein interessantes Mittel zur Annäherung an bisher Ungesehenes sein. Wir nahmen eine Pflanzkelle zu Hilfe, um eine Pflanze auszugraben und die Wurzel in die Betrachtung miteinzubeziehen. Den interessantesten Moment der Pflanzenentwicklung schien uns der Punkt zu markieren, an dem die Wurzel in den oberirdischen grünen Teil übergeht. Hier begegnen sich die Wachstumsrichtung der Wurzel nach unten, Richtung Erdmittelpunkt, und nach oben, von Blättern, Stängel und Blüten Richtung Himmel und Sonne. Ein exakt definierter Punkt scheidet die Wege des Wachstums.
Ist damit wohl das „reichere Wahrnehmen“, von dem der spirituelle Lehrer Heinz Grill spricht, gemeint?
Oder benötigen wir eine andere Qualität des Wahrnehmens? Was motiviert eigentlich die Pflanze, entgegen dem Schwerpunkt sonnenwärts zu streben? Heinz Grill spricht von „Weisheitskräften“, die die Naturerscheinungen in der Harmonie, Schönheit und Ästhetik erschaffen, wie sie sich zum Beispiel in der Frühlingsflora vor uns ausbreiten. Was sind diese Weisheitskräfte? Wie kann man diese wahrnehmen oder wahrnehmen lernen?
Wir erweitern unsere Pflanzenbetrachtung zunächst noch um einen Schritt:
Die Beziehung zum Menschen
Wenn man sich mit einer Pflanze beschäftigt und sich mit ihr auseinandersetzt, kommt sie näher, eine Beziehung entsteht. Ein Aspekt dieser geführten Übung besteht genau in diesem gezielten Beziehungsaufbau. Aber gibt es nicht auch Beziehungen zwischen Pflanze und Mensch, die ohnehin bereits bestehen, aber nicht im Bewusstsein gegenwärtig leben?
Wir blicken nochmals auf die Anregungen zur Naturbetrachtung von Heinz Grill:
„So, wie die Pflanze das Licht der Sonne benötigt, so will sie ebenfalls das Licht der Aufmerksamkeit vom Menschen gewinnen und mit diesem Licht in eine stille, empfindsame Begegnung treten“ (Heinz Grill)
Über das Licht der Aufmerksamkeit, mit dem die Pflanze in eine Begegnung treten möchte, besteht bereits eine weitgehend unbeachtete Verbindung. Welche weiteren Beziehungsebenen zwischen Pflanze und Mensch können wir benennen?
Wir leben in einem die Erde umhüllenden Luftraum. Der erfrischende Luftstrom tritt in unsere Lungen ein und ermöglicht alle menschlichen Regungen und Tätigkeiten. Der lebensspendende Sauerstoff wird mit dem Vorgang der Photosynthese von der Pflanze freigesetzt. Ohne diesen pflanzlichen Stoffwechsel wäre ein Leben für uns nicht möglich.
Als Photosynthese wird der Aufbau von Kohlenhydraten aus dem Kohlendioxid der Luft und dem Wasser mit Hilfe von Licht beschrieben. Dieser Vorgang, der im Weiteren auch noch verschiedene Mineralien miteinbezieht, findet im grünen Blatt der Pflanze statt.
Das Ausscheidungsprodukt unserer Atmung also wird einerseits wieder in den für uns so notwendigen Sauerstoff verwandelt, andererseits erschafft die Pflanze aus diesen anorganischen Stoffen, aus dem gasförmigen Kohlendioxid und dem flüssigen Wasser, Stärke in vielen verschiedenen Variationen und mit den unterschiedlichsten Mineralien angereichert. Blätter, Stängel, Früchte und Samen der Pflanzen, das Getreide mit seiner besonders reinen Konzentration an Kohlenhydraten, gereichen uns zur Nahrung und damit zur weiteren Lebensgrundlage.
Betrachten wir nochmals genauer die Primel, die für diese Übung im Zentrum unserer Aufmerksamkeit steht: Blicken wir auf die Blüte, so finden wir die zart-hellgelbe Blüte bereichert durch kräftig gelb-orange strukturierte Farbflecken. Die stoffliche Grundlage dieser kräftig leuchtenden Farbe ist das Carotin. Das Carotin finden wir als notwendige Substanz zur Photosynthese in der Pflanze und als metamorphisierte Form zum Vitamin A im Sehpurpur des Auges. Die Beziehung zum Licht, die der Pflanze und dem Menschen besonders im Sinnesorgan des Auges eigen ist, finden wir in ihrem stofflichen Träger, dem Carotin bzw. Vitamin A, ebenfalls in beiden und sie leuchtet uns freudig in der Blüte der Primel entgegen.

Weiterhin haben wir uns ins Gedächtnis gerufen, dass Pflanzen in ihrem Organismus Stoffe hervorbringen, die Gesundheit und Heilungsprozesse beim Menschen fördern. Auch wenn die Schaftlose Primel nicht zu den ausgewiesenen Heilpflanzen gehört, so gilt dies doch für nahe verwandte Arten wie die Wiesen-Schlüsselblume (Primula elatior) oder die Echte Schlüsselblume (Primula veris). Die Inhaltsstoffe von Blüte, Blatt und Wurzel, Saponine und Salicylsäure, werden in der Volksmedizin, aber auch in Form von Bestandteilen gängiger Pharmazeutika beispielsweise als schleimlösende Mittel bei erkältungsbedingtem Husten angewendet. Heilansätze, die von einem weiter gefassten Menschenbild ausgehen und deshalb nicht die reine Stofflichkeit ins Zentrum der Wirksamkeit rücken, schreiben den Primeln ebenfalls bedeutsame Möglichkeiten zu: Hildegard von Bingen empfiehlt sie gegen Depressionen, in der anthroposophischen Medizin wird die Beziehung zum rhythmischen System des Menschen hervorgehoben. Und Heinz Grill schließlich beschreibt für die Primula Veris eine günstige Wirkung im Zusammenhang mit der Krebskrankheit, die auf einer Konzentration des sogenannten Wärmeäthers beruht. Die äußerst komplexen Zusammenhänge zur menschlichen Gesundheit werden in unserem Kontext erwähnt, bedürfen im Einzelnen aber genauer Kenntnisse und Studien.
Eine Beziehung der Primel zu uns kommt uns ganz unmittelbar, ganz ohne Reflexion und Hintergrundwissen entgegen: es ist die Freude! Eine echte Freude entsteht beim Betrachten der Blume, eine Resonanz auf die Schönheit der Farben und Formen, die uns entgegenleuchten!
Warum spricht uns die Schönheit der Pflanze so besonders an? Vielleicht, weil sie die Schönheit in Reinheit hervorbringt? Unberührt von Emotionen, Begehren und Trieben, wie wir sie bei Tieren und beim Menschen, bei uns selbst beobachten können?
Wie wirken Ätherkräfte an der Pflanze?
Der Sinn dieser Sammlung von verschiedenen Aspekten, die die Pflanzenbetrachtung begleiten, ist, ein möglichst lebendiges und beziehungsfreudiges Fundament für unsere Forschungsfrage, die ganz ins uns Unbekannte gerichtet ist, zu gründen. Diese Forschungsfrage darf als eigentlicher Kern der Übung gelten.

Heinz Grill spricht von Weisheitskräften oder Ätherkräften, die die Natur durchdringen, Wachstum und Formenreichtum motivieren, die Natur als lebendiges Gesamtes mit unzähligen einzelnen, miteinander in Beziehung stehenden Aspekten.
Wie können wir uns dieser unbekannten Wirklichkeit annähern? Heinz Grill empfiehlt, mit einem klaren Übungsaufbau rhythmisch wiederholend vorzugehen. Der konkreten Betrachtung das Nach-Erschaffen in der Vorstellung folgen zu lassen und sich dann auf eine Fragestellung wie die unsere zu konzentrieren:
„Wie wirken Ätherkräfte an der Pflanze ?“
Diesem Teil der Übung sollte der größte Raum und die größte Aufmerksamkeit geschenkt werden. Denn hier setzt die eigene Aktivität ein, kann sich das schöpferische Potential des Menschen entfalten und eröffnet sich die Möglichkeit, eine Wahrnehmung und Beziehung zur Natur über die bisherigen Erfahrungen hinaus anzulegen.
Als schöpferisch ist der Gedankenprozess zu bezeichnen, sich die Pflanze in der Vorstellung lebendig, plastisch, in ihren Details vor dem inneren Auge wieder zu erbauen oder nachzuschaffen. Als schöpferisch ist auch die Fragestellung, die weiter ausgearbeitet werden und variieren kann, zu sehen. Die auf eine höhere oder feinere Wirklichkeit gerichtete, wiederholt über mehrere Minuten in der Konzentration gehaltene Frage schließlich schafft die Aufmerksamkeit dafür, empfindend wahrzunehmen, wie die Pflanze sich selbst ausspricht.
„Diese Seelenübung wirkt allgemein beziehungsfördernd zu allen Naturerscheinungen. […] es sind die Ätherkräfte, die in der Natur in spezifischen Variationen wirken und die schließlich durch die sich entwickelnde Seele erahnt und bald wahrgenommen werden. Gleichzeitig erfährt sich der Übende selbst im Verhältnis zur Pflanzenwelt und bewirkt bei den Beobachtungen feinste Veränderungen, die sich günstig im Sinne einer atmosphärischen Harmonisierung und Belebung auswirken.“ (Heinz Grill)
Die Entwicklung denken
Einer weiteren Anregung von Heinz Grill folgend stellen wir uns abschließend noch die weitere Entwicklung der Pflanze vor: was kann aus dem heute beobachteten Zustand entstehen?
Wie werden sich die Blüten und Blätter ausformen? Der Samenstand? Wie finden wir die Primel im Hochsommer vor?
Wird sie sich vielleicht über die gesamte Wiese ausbreiten und die Besucher erfreuen? Welche Qualität würde das Leben aller gewinnen, wenn diese kleine schaftlose Primel sehr viel ausgedehnter die Wiesen und Haine der gesamten Region bevölkern würde?
Ein letztes Zitat von Heinz Grill
„Je nachdem, was wir der Natur und den Bergen entgegenbringen, so wird ihre Antwort in einer freudigen Wärme und harmonischen Ökologie uns wieder entgegengehen. Es ist tatsächlich ein tiefes Gesetz, dass all dasjenige, was wir an Gedanken, Empfindungen und Werken in die Schöpfung hineinbringen, uns selbst wieder aus der Schöpfung entgegenatmen wird.“ (Heinz Grill)









Quellen:
Heinz Grill, „Übungen für die Seele“, Synergia-Verlag, 3. Auflage 2022
Wilhelm Pelikan, „Heilpflanzenkunde“, Verlag am Goetheanum, 5. Auflage 2005, Bd. 2
Heinz Grill, „Der Archai und der Weg in die Berge“, Verlag für Schriften von Heinz Grill, 1999